Erinnerungen an Zo

E n t w u r f eines etwas anderen Nachrufs

 

„Zo“, so unterschrieb sie, meine Biologie- und Chemielehrerin. Mit einer eigentümlich klaren, schwungvollen Schrift.  Als sie in mein Leben trat, war ich zwölf oder dreizehn. Ich war in einer Mädchenklasse, besuchte die örtliche Pflichtschule. Es gab im Ort nur eine Hauptschule, Alternativen waren nicht möglich. Die Schule war ganz gut. Die Mitschülerinnen waren Mädchen eben. Sie interessierten sich für den Lernstoff nur am Rande.

Doch die Bedeutung von Lernen änderte sich, als die „Zelle“ in Erscheinung trat. So war ihr Spitzname. Sie betrat nicht die Klasse, sie erschien. Kräftig, stämmig, energiegeladen und von allergrößtem Eifer beseelt, uns jungen Leuten nicht nur Lernstoff einzutrichtern, sondern uns etwas fürs Leben mitzugeben.

Und so wurden wir bald mit Sprüchen vertraut, die auch heute noch immer als „typisch Zelle“ in mir verankert sind.

Vom Leben, das das größte Wunder ist, und von der Verwandlung der Raupe in den Schmetterling als der größten unsichtbaren Revolution, konnte sie schwärmen, dass uns ganz weihevoll zumute wurde. Wenn sie vom Zauber des Lichtes schwärmte, mit seiner unfassbaren dualen Eigenschaft als Licht und Welle, blieb uns der Mund offen. Die Ordnung im System der chemischen Slemente und in unserem Planetensystem beschrieb sie mit goetheanischem Pathos, sodass der Dichter und Denker uns präsent erschien in weiblicher Gestalt, unausgesprochen, niemand von uns hätte jemals diesen Vergleich auszusprechen gewagt.

Der Lernstoff wurde weider und wieder kurz beiseite gestellt, um uns anzuspronen, etwas aus uns zu machen, wir alle hätten die Chance. es erfordere Einsatz, es erfordere rechte Umgang mit unseren Kräften. Wir sollten es wertschätzen, in einem klimatisch idealen Landschaft aufzuwachsen, mit frischer, kräftigender Atemluft wie auf der Alm.

Wenn sie bisweilen mit dem Schwung einer Dampflok ins Klassenzimmer stürmte oder an der Tafel stand und dozierte, war es, es wolle sie uns mit ihrem Energiestrom beflügeln und uns dazu bringne, es ihr gleich zu tun.

Ja, sie war eine Naturgewalt und eine Lebensmeisterin zugleich da draußen, und sie sorgte schon dafr, dass niemals eine von uns während des Unterrichts einnickte, denn alle fühlten sich angesprochen.

Sie war kinderlos geblieben. Warum, erfuhren wir nicht und – was hätte es geändert? Ich wusste gerade so viel, dass unsere Lehrerin in jungen Jahren in Portugal lebte und arbeitete. Die Bestätigung dafür ergab sich, wenn portugiesische Namen erwähnt wurden. Sie konnte sie richitg aussprechen, und für uns klang dieser Unterschied zum geschriebenen Wort einfach unglaublich,  denn natürlich hatte keine von uns eine Ahnung von Portugiesisch.

Auf gesunden Schlaf und eine saubere, klare Heftführung legte sie größten Wert Frisches, waches Auftreten und Ordnung im Heft und auf der Bank wurden von ihr merklich mit anderkennenden Blicken honoriert.

Mitdenken und Mitarbeit bereiteten ihr sichtlich noch weit mehr Genugtuung und Freude. Über Schwächen sah sie hingegen geflissentlich hinweg. Sie coachte uns Mitte der Sechziger Jahre so ziemlich, wie es heute erfolgreiche Trainer tun. Indem sie uns ermutigte und stndig bemüht war, uns mit ihrer Begeisterung für ihre Unterrichtsgegenstände anzustecken – und mit ihrer Ehrfurcht vor dem Leben bis zur kleinsten Zelle und bis zum Atom.

Natrlich hatten wir Schülerinnen keine Ahnung von der lyrischen und spirituellen Veranlagung unserer Lehrerin. Erst als ich bereits eine Familie hatte, fand ich heraus, dass Frau Doktor Zobernig einen Gedichtband nach dem anderen herausbrachte. Und dass ihr Leben von tiefer Religiosität geprägt war.

Allerdings war diese Frömmigkeit nicht eine ausgesprochene Kirchenfrömmigkeit, sondern – so ist es vielleicht nur meine persönliche Einschätzung – eine Symbiose aus ihrer Naturverbundenheit und einer tiefen Spiritualität.

Der Dichterfürst der deutschen Nation, er musste wohl in einer wahren Seelenverwandschaft mit ihr verbunden gewesen sein, denn auch seine Leidenschaft galt ja dem Forschen und Erkennen, den Wirkkräften der Natur und dem Licht. Und die höchste Maxime des forschenden und schreibenden Goethe wurde auch zum Leitspruch unserer Lehrerin: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Und da dies auch der Lieblingsspruch meines Kärntner Großvaters war, dachte ich mir nur: „Ja, eh klar!“  Es war für mich ein Leitspruch, auch wenn ich ihn nie zitieren würde, denn heutzutage klingt er schon etwas antiquiert.

Heute reden wir davon, wie schön es ist, einen Baum zu umarmen und dass man in seiner Mitte bleiben soll. Dass man sich von Beurteilen oder Verurteilen fernhalten soll und man seinem Herzen folgen soll. Wie schwerfällig doch solche Umschreibungen sind – der Spruch mag altmodisch sein, aber er trifft es. Jedenfalls, wenn wir ihn in unsere heutige Sprache übersetzen.

Der Baum, ein uraltes Symbol… Erst bei unserem Klassentreffen vor wenigen Wochen wurde ich durch einen ehemaligen Klassenkameraden daran erinnert, dass alle von uns bei der Matura von der „Zelle“ ein Bäumchen geschenkt bekamen, das wir zur Erinnerung einpflanzen sollten.

Nie mehr hatte ich in all den Jahren an diesen Baum gedacht. Wie ich überhaupt an vieles nicht mehr dachte, denken wollte, weil es mich mit Traurigkeit oder Schmerz erfüllte.

Doch ich habe gerade Jahre übersprungen. Die Jahre in der Mädchenschule gingen im Jahr 1970 in meine Gymnasialzeit über. Vier Jahre sollte ich erneut in dem Bau verbringen, in dem sich auch meine vier Volkschuljahre ereignet hatten.

Für mich waren nach vier sonderbaren Volksschul- und vier eigenartigen Hauptschul- vier weitere seltsame Oberstufenjahre angebrochen. Die Schule brachte mir einfach nicht das was ich mir von ihr erhofft hatte, sondern Enttäuschung reihte sich an Enttäuschung. Es waren für mich qualvolle Jahre der Einsamkeit unter Vielen, Unverstandensein und Lärm, der Langeweile und Traurigkeit, der starren Strukturen und der Sehnsucht nach der Natur.

Der Unterricht in Chemie und Biologie, den ich bei der „Zelle“ genießen durfte, war wie ein Lichtstrahl in meinem Gefängnis. Auch andere Lehrer boten Lichtblicke, und manchmal gab es Spannendes, aber nichts konnte daran heranreichen, wie es war, wenn die „Zelle“ den Vorgang der Zellteilung beschrieb oder uns eine chemische Formem näherbrachte.

Wenn sie über Bewegung sprach als Ausdrucksform des Lebendigen, in Pflanze Tier, Mensch, blieb sie nicht am Unterrichtsstoff hängen, sondern macte einen Schwenk zu unserer Lebensweise. Lasst frische Luft herein, bewegt euch. Bewegt euch viel an der frischen Luft. Schaut mich an, ich wandere viel, arbeite im Garten, schlafe bei offenem Fenster…

Das waren Lebensweisheiten, die wirklich von Nutzen waren, mehr als alles Bücherwissen.

Ich habe keine Ahnunh, wie es meinen Mittelschulkameraden damit erging – außer dass sie gerne in den Pausen die Sprüche unserer Frau Klassenvorstand wiederholten und sich gerne mit der „Zelle“ in allgemeine Gespräche einließen. Einige in meiner Klasse hattten ein „grßes Mundwerk“ (und haben es bis heute noch).  Mitunter versuchten sie, die Leherrin „aufzuziehen“, wie Schüler es halt so haben. Aber sie verdreht dann höchstens die Augen, weil sie das Ansinnen durchschaute und sagte höchstens: „Mei, was sich der.. oder die… da wieder ausgedacht hat..!“

Ihre Begeisterung für die Naturwissenschaften, deren Repräsenttin sie fü rmich war, wirkte ansteckend auf mich. Ihre Fächer wurden zu meinen Lieblingsfächern, und ich lernte nicht der Noten wegen, sondern aus Interesse.

Damals gab es bestenfalls Lexika oder das eine oder andere Buch um sich mehr Zugang zu einem Fachgebiet zu verschaffen. Was mir unterkam, verschlang ich. Und schon bald entdeckte ich, dass die „Zelle“ nicht sdagegen hatte, wenn man sich freiwllig zu einem zusätzlichen Referat meldete, wovon ich immer wieder Gebrauch machte. Es machte einfach Spass und ich hatte da Gefühl, mehr involviert zu sein in die große weite Welt der Wissenschaft. So nebenbei gab es statt Einsern Eins plus, auch wenn das keien Rolle spielte , aber jedenfalls brauchte ich nie zittern, dass es einmal eine Zweier würde, denn das wäre unter meiner Würde gewesen, jedenfalls in diesen meinen Domänen.

Dch meine Begsiertung wurde von meinen Kollegen udn Kolleginnen keineswegs geteilt. In der Hauptschule schwert mich Kritik meiner Mitschülerinnen nicht, aber im Gymnasium war ich als Pubertierende gehemmt und trachtete danach, von den Gleichaltrigen akzeptiert zu werden. Das gelang mir ohnehin nie, denn ich musste ihnen wie ein Wesen von einem anderen Stern erschienen sein. Aber das wäre eine andere Geschichte.

Dann und wann gab es Schikurse, Wanderungen, Exkursionen, und Frau Doktor Zobernig als unsere Frau Klassenvorstand war bei den meisten Ausflügen als Aufsichts- und Begleitperson dabei auch bei unserer Maturareise. Ihr Engagement war diesbezüglich vorbildlich, und doch möchte ich nun auch gewisse Schattenseiten nicht ausklammern.

Nach einigen Jahren, inden die „Zelle“ mein Lehrer-Idol war, das mir in meiner damaligen Zeit der vielen Unsicherheiten und Schwächen Rückhalt gab, mehr als meine Angehörigen es vermochten, bröckelten nach und nach meine Illusionen ab, bis nur mehr ein Scherbenhaufen übrig war.

In der Hauptschule sonnte ich mich im schönen Gefühl, von ihr Anerkennung zu bekommen und verstanden zu werden. Doch im Gymnasium war sozusagen mein Stern gesunken und ich war einfach Teil der Herde. Einer Herde, in der viele weit lauter als ich zu Blöken vermichten. In der sich eine mathematik- und physikbegabte Burschen zu gefährlicher Konkurrenz aufschwangen.